5 Wölfe · Kurzgeschichte · Leseempfehlung · Novelle · Rezension

“Wolfssucht” – Nora Bendzko

©Klappentext, Cover & Zitat: Nora Bendzko

 

Ebook: 2,99 / Taschenbuch: 6,99

Seitenzahl: 132

Verlag: epubli

Release: 25. Februar 2017

Genre: Dark Fantasy, Märchenadaption

Klappentext:

Irina musste als Kind mit ansehen, wie ihre Schwester Leonore ermordet wurde. Nur weil Skandar, der Sohn des Jägers, sie beschützte, ist Irina noch am Leben.
Selbst als Erwachsene verfolgen sie die Bilder des brutalen Mordes. In ihrem Dorf fühlt sie sich ausgestoßen. Hinter ihrem Rücken nennt man sie verflucht. Allein Skandar will Irina für sich gewinnen. Als er sein Ziel nicht erreicht, schlägt seine Zuneigung in Gewalt um. Irina muss fliehen.
Doch »es« lauert immer noch da draußen. Im finsteren Wald. Leonores Mörder hat Irina nicht vergessen.
Ihre erneute Begegnung setzt blutige Ereignisse in Gang, die das ganze Dorf ins Verderben zu reißen drohen …

Zitat:

“Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod, was grimmer denn die Pest, und Glut und Hungersnot, dass nun der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.“ – Andreas Gryphius: Tränen des Vaterlandes, Anno 1636
“Irina war sechs Jahre alt, als sie den Krieg kennenlernte: Ein Heimat und Leben verschlingendes Ungeheuer.”
“Bestrafe mich, vernichte mich, zerstöre mich!”
“Das Mädchen, das du nicht und doch gefressen hast, flüsterte sie.”
“Soweit es ihre Fesseln zuließen, reckte sie sich den alles verschlingenden Flammen entgegen, in denen die Schatten von Wolf und ihrer Familie tanzten.”

Eigene Meinung:

Irina hat als kleines Mädchen nicht nur den Krieg kennen gelernt, sondern zusätzlich miterlebt, wie ihre eigene Schwester Leonore von einer Bestie aus dem Wald ermordet wurde. Nur weil Skandar der Jägerssohn ihr zur Hilfe kam, hat sie überlebt. Doch der Preis für die Rettung ist hoch, denn Skandar will sie zur Frau nehmen und mit ihr das Bett teilen, doch Irina weigert sich und so will Skandar das, was ihm zusteht, sich mit Gewalt holen. Doch da ist auch noch immer Leonores Mörder, der vor dem Dorf sein Unwesen treibt und Irina in seine Fänge lockt. Doch in den Wäldern lauert noch ein Monster, ein größeres, jeden verschluckendes Ungetüm.

“Wolfssucht”, eine düstere und unheilvolle Märchenadaption zu unserm bekanntem “Rotkäppchen“,  ist der Auftakt der Galgenmärchenreihe, in der quasi alles beginnt. Alle Galgenmärchen sind durch einen indirekten roten Faden miteinander verbunden, mit Irina beginnt es, mit Irina endet es. Die Geschichte basiert auf der Ursprungsidee, in der der Wolf, ein nach körperlicher Nähe süchtiger Mann ist, der sich diese rücksichtslos und gewaltvoll von Frauen nimmt. Sprich, wer hier eine romantische, mit einem Happy-End endenden Geschichte erwartet, ist hier leider vollkommen fehl am Platz. Irinas Geschichte spielt genau wie die anderen Galgenmärchen während des 30-jährigen Krieges zwischen den Katholiken und Protestanten und auch wenn er hier mehr im Hintergrund wütet, ist er doch letztendlich das größte Monster, das jeden Menschen findet und ins Unheil stürzt. Obwohl das Buch nur recht kurz ist, schafft die Autorin es, auf den wenigen Seiten eine bewegende und tiefgründige, schockierende und grausame Geschichte zu schreiben, die einen so schnell nicht wieder loslässt. Sie spricht hier ein ernstzunehmendes Thema an, ohne es zu beschönigen geschweige denn zu verherrlichen. Also bevor man dieses Buch aufschlägt, hier eine kleine Warnung: Hier geht es um Missbrauch/Vergewaltigung, also ist es mit Vorsicht zu genießen. Die Autorin behandelt dieses Thema mit viel Fingerspitzengefühl und umschreibt die jeweiligen Szenen aus der Sicht von Irina, es wird nicht detailliert der Akt an sich beschrieben, sondern man erfährt viel mehr, was Irina in diesem Moment empfindet, was sie spürt. Die jeweiligen Passagen sind so komplex verfasst, dass man tatsächlich einen Moment braucht, bis man versteht, was da geschehen ist, was es zum einen erträglicher macht und gleichzeitig einen umso sprachloser zurücklässt.

Nach “Hexensold“ ist dies mein zweites Galgenmärchen und wieder hat mich die Autorin an die Seiten gefesselt. Auf einfühlsame Weise behandelt die Autorin ernste Themen, was sowohl skurril als auch faszinierend ist, man bleibt schockiert aber auch nachdenklich zurück.
Was geschieht mit einem, wenn man aus seinem eigenen Zuhause fliehen muss, weil der Krieg einem im Nacken sitzt? Was macht es mit einem, wenn man die Ermordung der eigenen Schwetser miterlebt? Wie geht man selbst damit um, wenn man sich auf den Mörder derjenigen einlässt?  Die Autorin verschönigt nichts, schmettert einem aber keine grausamen und brutalen Bilder vors Auge, sondern versteckt es eher hinter Beschreibungen, die einem aber deutlich machen, wie verstörend es für den Charakter selbst sein muss.

Die Geschichte spielt im 17. Jahrhundert, was beherrscht ist von Aberglaube und menschenunwürdigen Gesetzen. So kommt es, dass die selbstbewusste Irina in dem Dorf, in das sie fliehen konnte, ausgegrenzt wird, da sie sich nicht den Wünschen von jedem, insbesondere Skandar dem Jägerssohn, unterwirft. Irina denkt für diese Zeit fortschrittlich und unterwirft sich nicht den teils menschenunwürdigen Gesetzen.  Es wird deutlich, wie schwer es für Menschen damals war, die einen eigenen Kopf besaßen und sich nicht nach dem Glauben der anderen richtete. Irina ist eine starke, selbstbewusste und selbstbestimmende junge Frau, die sehr wohl weiß, was sie will und die sich durch nichts und niemanden einschüchtern lässt. Sie blickt hinter die angeblichen Gefühle Skandars und durchschaut die Fassade aus Schuld und den Wunsch nach Wiedergutmachung, bzw. den Versuch das schlechte Gewissen rein zu waschen, da er zu spät für Leonore kam. Irina verspürt nicht den Wunsch sich auf den Jäger einzulassen, der das nicht gut aufnimmt.
Während Skandar, so scheint es, selbstsüchtig handelt und die Dorfbewohner sie ausgrenzen, da ihre Art zu denken, ihnen Angst macht, ist da zusätzlich die eigene Großmutter, die sich gegen sie zu wenden scheint, dabei meint diese von ihrer Seite es nur gut und will einzig und allein, dass ihre Enkelin es mal besser hat als sie.
Irina ist ein sehr komplexer Charakter, zwar strahlt sie auf der einen Seite Selbstbewusstsein aus, doch wenn man zwischen den Zeilen liest, wird einem klar, dass sie sich letztendlich schon längst selbst aufgegeben hat. Den Verlust ihrer Familie kann sie kaum verkraften und so stürzt sie sich regelrecht in die Fänge der Bestie, die sie aus den grauen Alltag des Dorfes herausholt. Sie stellt sich gegen Skandar, einem doch vertrauten Menschen, der sie schon einige Male gerettet hat und begibt sich lieber in die Obhut einer Kreatur, eines Mannes, der ihr nicht nur die Jungfräulichkeit genommen hat, sondern auch den letzten Halt an das Leben.
Wir lesen das gesamte Buch nur aus Irinas Sicht und erfahren ihre Eindrücke, Gefühle, Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte. Wer meint es wirklich gut und wer wirklich schlecht mit ihr? Denn sie selbst zieht sich zurück und unternimmt keinen einzigen Versuch das Dorf zu ihrem neuen Zuhause zu machen.

Die Geschichte ist komplex und dennoch eingedrucksvoll, denn letztendlich ist dort ein Ungetüm, was immer wieder überraschende Wendungen erzeugt, so wird man am Ende daran erinnert, dass es eine zerstörerische Macht gibt, die alles und jeden verschlingt. Zumindest saß ich am Ende da und konnte nach dem letzten Wort nicht glauben, was da gerade geschehen ist und blieb ungläubig zurück.

“Wolfssucht“ ist eine gelungene dunkelfantastisch angehauchte Märchenadaption, die nichts mit der Kindermärchenversion gemein hat, außer einem verlorenem Mädchen mit einem roten Mäntelchen und dem großen, bösen Wolf, der hier allerdings ein im Wald umherstreifender, einsamer und ebenfalls von der Gesellschaft verstoßener Mann ist.

Kritik:

Nochmal eine Warnung: Das in dem Buch beinhaltende Thema ist nicht für jedermann, darüber sollte man sich definitiv im Klaren sein. So kann dieses Buch, was einen Unterhaltungswert haben soll, falsch ausgelegt werden, auch wenn die Autorin damit nicht das Thema verherrlichen will. Nicht für jeden ist dieses schwerwiegende Thema leicht zu verdauen und die gesamte Komplexität ist auch schwer greifbar. Leider kann hier das Missverständnis auftreten, dass es hier um Sex mit Tieren geht, das ist definitiv nicht der Fall!!

Die Geschichte hätte gerne noch einige Seiten vertragen können, da das Thema an sich und auch der Charakter Irina sehr komplex ist, so aber nicht bei jedem was hängen bleiben könnte. Gerade Irina hätte noch weiter ausgebaut werden können, sowie die Großmutter, der Wolf und der Vater des Wolfes. Die Nebencharaktere spielen an sich eine sehr tragende Rolle, werden aber recht oberflächlich abgehandelt, bekommen viel zu wenig Raum, um sie wirklich in ihrer Gänze zu fassen, dabei wird gerade durch sie die Komplexität von Irina deutlich, als auch das Thema an sich.

Fazit:

“Wolfssucht” ist die bewegende Geschichte um Irina, die durch den Krieg nicht nur ihre Familie verliert, sondern auch ihr Zuhause und sogar sich selbst. Sie konnte zwar zu ihrer Großmutter flüchten, doch auch hier holt sie die Vergangenheit ein. Der Jägerssohn Skandar hält um ihre Hand an, doch sie verweigert sich ihm, gibt sich stattdessen einem anderen hin, um die Schmerzen zu vergessen, die sie durch den Verlust ihrer Familie erleidet. Sie hat nichts mehr zu verlieren und sucht einen Ausweg aus ihrem trostlosen Dasein. Mit “Wolfssucht“ beginnt die Galgenmärchenreihe von Nora Bendzko, die jede für sich gelesen werden kann, auch wenn sie miteinander verbunden sind. Wie schon zuvor bei “Hexensold“ hat es die Autorin geschafft, mich an die Geschichte zu fesseln. Sie überzeugt durch ihren einfühlsamen Schreibstil, der nicht zu sehr ins Detail geht, durch die Komplexität der Handlung, wo man auch mal genauer lesen sollte, um das ganze Ausmaß zu erfassen. Für schwache Nerven und HappyEnd Liebhaber ist diese Geschichte allerdings nichts.

 

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